Einzelgänger mit Massenpublikum. Das war Hans Boettcher. Oder wer war er wirklich? Der Stuttgarter Zeichner, der eine ganze Generation mit Scherzpostkarten erfreut hat, gibt viele Rätsel auf. Eine Ausstellung in Stuttgart-Gablenberg versucht, sich dem Unbekannten zu nähern.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Ein Zeichner aus Stuttgart, der in seinem Leben vermutlich mehr als tausend Zeichnungen angefertigt hat, die hunderttausendfach gedruckt und als Postkarten verkauft wurden, und der dennoch völlig unbekannt ist – wie ist das möglich? Tatsächlich hat dieser Hans Boettcher – so heißt der vergessene Zeichner – außer Postkarten, praktisch keine Spuren hinterlassen. Er wuchs ohne Geschwister auf und hatte keine Kinder. Er stellte seine Zeichnungen nie aus und hinterließ keinen Nachlass. Er bezeichnete sich auch nicht als Maler und Künstler, sondern als Kaufmann. Niemand nahm von seiner Person Notiz. Es existiert noch nicht einmal ein Foto von ihm. Zumindest keines, das ihm zugeordnet werden könnte, weil niemand weiß, wie er ausgesehen hat. Hans Boettcher ist ziemlich nahe dran an einem Phantom.

 

Ein Puzzlespiel, bei dem viele Teile fehlen

Das Nichtwissen um diesen Stuttgarter Zeichner verdanken wir Ulrich Gohl, Historiker und Vorsitzender des rührigen Museumsvereins Ost (Muse-O), sowie der Architekturhistorikerin Inken Gaukel. Im Alten Schulhaus in Gablenberg haben sie dem Unbekannten eine sehenswerte Ausstellung gewidmet, die noch bis zum 3. November zu sehen ist und von mehreren Veranstaltungen begleitet wird. Zufällig war Gohl auf Postkarten Boettchers aus den 1920er und -30er Jahren gestoßen und wollte mehr über die Person wissen, die sie gezeichnet hatte. Je länger er vergeblich suchte, desto mehr wurde seine Neugier geweckt. Unabhängig davon fiel Inken Gaukel auf, „wie viele der Ansichtskarten zu Neuer Architektur in Stuttgart von jenem Hans Boettcher stammen“. Sie taten sich zusammen und spürten gemeinsam dem geisterhaften Zeichner und Fotografen nach, von dem nicht mal die Lebensdaten bekannt waren: „Es galt einen völlig Vergessenen wieder zu entdecken“, sagen sie: „Wir mussten bei Null anfangen.“

Es war wie ein Puzzlespiel, bei dem viele Teile fehlen. Boettcher, so fanden sie heraus, wurde 1877 in Ulm geboren und starb 1958 in Stuttgart, wo er den Großteil seines Lebens verbrachte. Sein Vater Adolf Boettcher war Berufssoldat. Nach dessen Pensionierung zog die Familie 1899 nach Stuttgart, wo die Familie in der Hohenheimer Straße 65 lebte. Viel mehr ist aus seinen frühen Jahren nicht bekannt. „Welche Schulen Hans besucht hat, welche Ausbildung er genoss, das wissen wir leider nicht“, sagt Uhl. Das Zeichnen habe er sich vermutlich selbst beigebracht. Darin brachte er es zu einer naiven Meisterschaft, die er dank seines kaufmännischen Geschicks zu Geld machte.

Seine Scherzpostkarten wurden zum Verkaufsschlager

1903 erscheint Boettcher als „Teilhaber der Firma G. M. Bauder, Papier und Schreibutensilien en groß“ im Stuttgarter Adressbuch. Angesiedelt war sie im Haus Hohenheimer Straße 31. 1904 übernahm er den Kleinbetrieb ganz. Das nächste Lebenszeichen datiert von 1909, als Boettchers Betrieb, inzwischen ein „Verlag“, mitteilte, es habe eine sehr schöne Serie von Bleistiftzeichnungen „mit den reizvollsten Partien Stuttgarts als Weihnachts- und Neujahrsglückwunschkarten“ herausgebracht. Bald darauf zog der Verlag in die Alexanderstraße 76 um.

Auf die „reizvollen Stuttgart-Partien“ folgte eine Serie „Vergissmeinnicht“-Karten, mit denen Soldaten im Ersten Weltkrieg Grüße in die Heimat schicken konnten. Boettcher hatte offensichtlich ein Gespür dafür, was gefragt war und nannte seinen Verlag in „Schwäbischer Kunst-Verlag, Stuttgart“ um. Nach dem Krieg wandte er sich den sogenannten Scherzkarten zu – lustige Zeichnungen, die er mit kurzen schwäbischen Texten versah. „Jetzt begann seine künstlerisch und wirtschaftlich produktivste Phase“, meint Gohl. Boettcher produzierte viel und Vielfältiges. Gohl und Gaukel stießen auf Serien mit scherenschnittartigen Tuschezeichnungen, sepiafarbene Fotokarten, kolorierte Ansichten „mit einmontierten Menschen und Fahrzeugen“ und farbige Stuttgart-Zeichnungen, die als „Kunstkarten“ vertrieben wurden.

Nach dem Krieg liefen die Verlagsgeschäfte langsam aus

Und immer wieder ging es um die „Schwaben an sich“, die Boettcher auf seinen Scherzkarten liebevoll, aber auch spitz karikierte. Auf einigen der wenigen bekannten Originalzeichnungen wird die Liebe zum Detail erkennbar: hier der rote Regenschirm, des Hochzeitladers, der sich wie ein roter Faden durch die Zeichnungen zieht, dort das Kind, das die schwergewichtige Oma in die Bahn bugsiert. In seinen besten Momenten erinnert Boettcher an den großen Walter Trier. Einige der Figuren begannen sogar ein Eigenleben zu führen: Der „Hano-Schwabe“ ist da zu nennen, den die Firma Schleich 1957 in Kunststoff goss und fleißig verkaufte.

Boettcher, der Kaufmann, der den Zeichner verbarg, verdiente an seinen Postkarten offenbar gut. Gohl fand heraus, dass er 1938 etwa 18 000 Reichsmark versteuerte, was rund 80 000 Euro entspricht. Vier Jahre zuvor hatte Boettcher geheiratet: Johanna Mayer, von der ebenfalls wenig bekannt ist. Das Paar bewohnte ein stattliches Haus in der Wannenstraße 35 im Stuttgarter Süden. Nach 1945 liefen die Geschäfte langsam aus; neue Karten wurden nicht produziert, die Bestände abverkauft. Schließlich löste Boettcher den Verlag auf. 1958 starb er „ganz unerwartet an einem Herzschlag“, wie es in der Todesanzeige heißt. Immerhin die gibt es.

„Von den Nazis hielt er sich fern“

Der Einzelgänger mit dem Massenpublikum hat es Gohl und Gaukel angetan. Zu gerne wüssten sie noch mehr über ihn. Das, was sie wissen, reicht für eine Würdigung. Gohl hebt das stille, humorvolle Wirken Boettchers hervor und seinen feinen, „nie frauenfeindlichem oder zotigen Strich“. Bemerkenswert auch, „dass der Nationalsozialismus in den Karten seines ,Schwäbischen Kunstverlags‘ keinen Platz hatte“, wie Gohl betont: „Boettcher wurde nie militaristisch oder martialisch und hielt sich vom Gegröle der NS-Diktatur gänzlich fern.“

Die Ausstellung

Öffnungszeiten
Das Muse-o im Alten Schulhaus, Gablenberger Hauptstraße 130, hat samstags und sonntags jeweils von 14 bis 18 Uhr geöffnet. Eintritt: 2 Euro, Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei.

Veranstaltungen
Begleitend zu der Ausstellung „Hano, Lustiges aus Stuttgart. Postkarten und Zeichnungen des humoristischen Künstlers Hans Boettcher“ findet am Sonntag, 7. Juli, um 15 Uhr ein Mundarttheater statt: Elfriede Schöller erzählt in Älbler-Schwäbisch, wie sich das „Marile von der Alb“ auf den Weg nach Schtuagert macht.