Am 4. Mai startet in Turin der Giro d’Italia. Vor 100 Jahren ist bei dem traditionellen Radrennen zum ersten und einzigen Mal eine Frau gestartet: Alfonsina Strada.

Im Italienischen gibt es den schönen Ausdruck „farsi strada“, was so viel heißt wie: seinen Weg finden. Alfonsina Strada hat genau das gemacht, si è fatta strada. Vor 100 Jahren nahm sie als erste und in dieser Form einzige Frau am Radrennen Giro d’Italia teil – eine eigentlich nur Männern vorbehaltene Qual.

 

Als Alfonsina Morini wurde sie am 16. März 1891 in der norditalienischen Gemeinde Castelfranco Emilia geboren, einem kleinen Ort zwischen Bologna und Modena. Ihre Nichte Anna Morini erzählte einmal in einem Interview mit dem Sender Eurosport davon, wie die Liebe der Tante zum Zweirad entstanden war: „Mein Großvater Carlo kam eines Tages mit einem Fahrrad nach Hause, als Lohn für seine Arbeit. Alfonsina nahm das Fahrrad, verliebte sich darin und hat es danach einfach nicht mehr losgelassen.“

Zur Hochzeit ein Rennrad

Schon das eine erste Revolte: Schließlich hielten die Leute es damals noch für obszön, wenn ein Mädchen Fahrrad fuhr. „Aber Alfonsina ließ sich nicht entmutigen“, sagt ihre Nichte.

Schon als Jugendliche fuhr Alfonsina bei Radrennen mit – so erfolgreich, dass sie 1909 zum Grand Prix von Sankt Petersburg eingeladen wurde. Als sie 1915, im Alter von 24 Jahren, den Radsportler Luigi Strada heiratete, hoffte ihre Familie, dass sie nun das Rad zur Seite stellen und ein normales Leben führen würde.

Das Gegenteil trat ein. Ihr Mann unterstützte Alfonsina auf ganzer Linie, förderte und ermutigte sie. Der eindrucksvollste Beweis: Zur Hochzeit schenkte er ihr ein neues Rennrad.

1917 ist Alfonsina Strada unter den 54 Startern, die beim Giro di Lombardia antreten. Mitten im Ersten Weltkrieg nahm man es mit den Teilnehmern auf der eigentlich ebenfalls Männern vorbehaltenen Rundstrecke nicht so genau. Sie wird Letzte. Doch als sie nur ein Jahr später erneut antritt, landet sie auf Platz 21 und schafft es sogar, einen der männlichen Teilnehmer zu schlagen, wie das Global Cyclist Network (GCN) Italia im Rückblick berichtet.

„Der Teufel im Rock“

Alfonsina trägt nun bereits den Spitznamen „il diavolo in gonnella“, der Teufel im Rock. Ihr größter Traum ist, beim Giro d’Italia, dem bedeutenden Etappenrennen, das durch das ganze Land führt, anzutreten. Wie sie es genau geschafft hat, für das Männerrennen zugelassen zu werden, dazu gibt es mehrere Erzählungen.

Alfonsina Strada in Mailand Foto: Wikipedia

Klar ist: 1924 hatte der Giro d’Italia erhebliche Probleme, genügend Teilnehmer von Rang zu finden. Viele der damaligen Größen, wie Costante Girardengo oder Giovanni Brunero, weigerten sich aus Protest, da sie die Gage zu gering fanden. Alfonsina Strada meldete sich an. Und erhielt die Zusage.

Endlich. Schon in den Jahren zuvor, so berichtet es das GCN Italia, hatte sie sich beworben – und wurde immer wieder abgelehnt. Ob die Zusage 1924 der Nachlässigkeit oder der Gutmütigkeit der Organisatoren zuzuschreiben war? Die gängigste These: Wegen der zahlreichen Absagen der Stars der Szene suchte man nach einem Namen, mit dem man das Rennen doch noch in den Fokus der Öffentlichkeit rücken konnte.

Der Mythos besagt, dass Alfonsina Strada sich als Mann angemeldet haben soll – quasi als „die Päpstin“ des Radsports. Immerhin soll es auch Johanna einst geschafft haben, ihr Geschlecht zu verheimlichen und als Papst Johannes Anglicus den Stuhl Petri einzunehmen.

Sie wurde gebraucht

Klar ist: Beim Start wussten die Organisatoren, dass Alfonsina eine Frau ist, schlossen sie aber nicht wieder aus. Schon nach der ersten Etappe von Mailand nach Genua hatte sie einen erheblichen Rückstand. Nach acht von zwölf Etappen schied Alfonsina Strada offiziell aus der Wertung aus, weil sie die maximal zugelassene Zeit nicht einhalten konnte.

Doch auch danach durfte sie weiterfahren, die Veranstalter brauchten sie und erkannten ihren Wert: Die Frau mit den kurzen dunklen Locken wurde vom Publikum gefeiert und sorgte für Schlagzeilen – und damit für Werbung.

Als sie in Fiume ankommt, gibt sie eine Erklärung ab. Eine Frau, die Fahrrad fährt, sei möglicherweise nicht besonders ästhetisch und anmutig, sagt sie und fügt, auf die Strapazen des Rennens bezogen, hinzu: „Ich war noch nie schön. Jetzt bin ich ein Monster.“ Aber was solle sie tun, wie ihr Geld verdienen? Als Prostituierte, wir ihr manch einer vom Wegesrand aus zurief?

Ihr Mann war erkrankt, befand sich in einer psychiatrischen Einrichtung, ihr Mädchen lernte im Internat, das sie „zehn Lire pro Tag“ koste. „Manche mögen mich verspottet haben, aber ich bin zufrieden und weiß, dass ich es gut gemacht habe“, stellte sie fest.

Stürze, Demütigungen und eine Frau, die es allen zeigt

Als 31. Teilnehmerin beendete Alfonsina Strada den Giro d’Italia in Mailand, 17 Stunden nach dem offiziell Letzten der Wertung. Nach 3613 Kilometern auf dem Fahrrad, von Mailand über Genua und Florenz nach Rom, von da weiter nach Neapel, Taranto, die Ostküste Italiens hoch über Foggia, L’Aquila, Bologna bis nach Fiume und von dort über Verona wieder zurück nach Mailand. Nach Stürzen, nach Demütigungen, nie mit dem Ziel, ein Spitzenergebnis einzufahren, es aber allen zu zeigen, dass eine Frau schafft, was ein Mann schafft.

Was sie nicht mehr schafft: ein weiteres Mal am Giro d’Italia teilzunehmen. Strada macht dennoch Karriere, nimmt an Show-Rennen teil und stellt 1938 einen Stundenweltrekord für Frauen auf: 32,58 Kilometer in 60 Minuten. Dieser wird erst 1955 von Tamara Nowikowa geknackt und auf 38,473 Kilometer verbessert. Aktuell hält ihn wieder eine Italienerin: Vittoria Bussi schaffte im Oktober 2023 im Velódromo Bicentenario in Mexiko 50,267 Kilometer.

Das offizielle Frauenrennen erlebt sie nicht mehr

Einen eigenen Giro d’Italia für Frauen gibt es erst seit 1988. Das erlebte Alfonsina Strada nicht mehr. Nach dem Tod ihres ersten Mannes Luigi 1950 heiratete Alfonsina ein zweites Mal: ihren Jugendfreund und Ex-Radprofi Carlo Messori, mit dem sie ein Fahrradgeschäft in Mailand eröffnete.

1959 stirbt Alfonsina Strada nach einem Unfall mit ihrem Motorrad an einem Herzinfarkt. Die Rebellin hatte sich nach dem Tod ihres zweiten Mannes eine rote 500er Guzzi zugelegt. Im Südwesten Mailands ist heute eine Straße nach der Radfahr-Ikone benannt. Alfonsina si è fatta strada, sempre.