Die Häme britischer EM-Gäste über das angebliche „Drecksloch“ Gelsenkirchen ging viral. Die Oberbürgermeisterin rät zu einem zweiten Blick auf die Ruhrgebietsstadt. Und wie es das Schicksal so will: Die Briten müssen zum Achtelfinale wiederkommen.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Von einer „Geisterstadt“ war die Rede, einem „absoluten Drecksloch“: Mit solchen Vorwürfen gegen die EM-Stadt Gelsenkirchen hat ein britischer Fan in einem Video zu Beginn des Fußballturniers im Internet für Furore gesagt. Sein kurzer Clip auf der Social-Media-Plattform X ging viral.

 

Ist was dran an der Kritik des britischen Vloggers?

Der Clip rief reichlich Zustimmung und Häme hervor, aber auch wütende Reaktionen. Wie es das Schicksal und die Auslosung so wollen, müssen die Briten zum Achtelfinale am Samstag (29. Juni) gegen die Slowakei ausgerechnet in die anfangs geschmähte Ruhrgebietsstadt zurückkehren.

Zeit also für einen zweiten Blick. Und die Frage: Ist womöglich etwas dran an der millionenfach aufgerufenen Kritik des britischen Vloggers?

„Sieht aus wie ein absolutes Drecksloch“

Der britische Fußballfan und Journalist Paul Brown hatte vor dem ersten EM-Spiel der Engländer gegen Serbien den tatsächlich ziemlich trist wirkenden Bahnhofsvorplatz von Gelsenkirchen gefilmt, der zu der Zeit weitgehend menschenleer war.

Der Gelsenkirchener Bahnhof mit Bahnhofsvorplatz aus der Vogelperspektive. Foto: Imago/Hans Blossey
Auch bei näherer Betrachtung ist der Bahnhof kein städtebauliches Juwel. Foto: Imago/Frank Oppitz
Leerstand ist in der Innenstadt von Gelsenkirchen ein großes Thema. Foto: Imago/Manfred Segerer

Danach filmte der Besucher von der Insel aus der Straßenbahn den Weg zur Arena – auch nicht gerade die Vorzeige-Ecke der Stadt mit grauen Nachkriegs- und Backsteinfassaden und einer einst stolzen Schalker Glückauf-Kampfbahn, die ihre besten Zeiten längst hinter sich hat.

„Sieht aus wie ein absolutes Drecksloch“, schreibt der Vlogger zum über sechs Millionen Mal aufgerufenen Bahnhofsfilm und fing sich reichlich Reaktionen mit dem Tenor „Bei Euch ist es auch nicht besser“ ein.

Oberbürgermeisterin rät zur Gelassenheit

Vor dem erneuten Auftritt der Engländer in Gelsenkirchen mahnt Oberbürgermeisterin Karin Welge nun zur Gelassenheit. „Das war eine Einzelattacke eines Fans.“ Der Mann sei an einem spielfreien Tag und offenbar – wie er auch selbst später erklärte – leicht verkatert in Gelsenkirchen angekommen. Da sei wirklich wenig los gewesen.

Anzeigetafel zur EM in der Veltis-Arena in Gelsenkirchen-Schalke. Foto: Imago/osnapix/Hirnschal

Die Spieltage seien dann bestens besucht gewesen und hervorragend gelaufen, betont Welge. Im Übrigen sei der Mann inzwischen medial kräftig zurückgerudert. Tatsächlich lobte er etwa die Menschen und Kneipen in der Stadt. Dazu bekamen in Browns Ausführungen später auch andere EM-Städte wie Frankfurt und Köln ihr Fett weg.

Geläster über Gelsenkirchen hat Tradition

Alles erledigt also? Nicht ganz: Das Geläster über Gelsenkirchen hat für einige Menschen eine lange Tradition. Und das spricht dafür, dass doch irgendwas dran sein könnte. Schon zur besten Wirtschaftswunderzeit hatte der Wiener Komponist Georg Kreisler 1961 in einem bitterbösen Lied mit der Stadt abgerechnet:

„Lieblich schweben durch die Luft die schwarzen Dämpfe . . . Wer zu lang dort lebt, bekommt beim Atmen leichte Krämpfe.“

Die Luftqualität war Anfang der 1960er Jahre verbesserungswürdig, dafür boomte Gelsenkirchen damals noch mit knapp 400 000 Einwohnern. Dann aber schlossen die Zechen in der Kohlekrise – die letzte Zeche in Gelsenkirchen Ende 2008.

Tausende Jobs gingen verloren und die Stadt schrumpfte um rund 150 000 Einwohner, so stark und so schnell wie kaum eine andere Großstadt in Deutschland.

Förderturm von Zeche Hugo und E-On Kraftwerk in Gelsenkirchen-Scholven im Jahr 2000. Heute sieht es noch fast genauso aus.  Foto: Imago/Jochen Tack
Trostlose Hausfassaden im Jahr 2002: Im Stadtteil Bismarck leben damals wie heute rund 20 000 Menschen – und es sieht fast noch genauso aus wie damals. Foto: Imago/Rupert Oberhäuser
Gelsenkirchen-Buer mit der Zeche Rhein Elbe im Jahr 1937. Foto: Imago/Arkivi

Arbeitslosenquote liebt bei rund 15 Prozent

Massive Leerstände insbesondere im „Fußball-Stadtteil“ Schalke sind bis heute ein Problem. Die Arbeitslosenquote markiert mit gut 15 Prozent Anfang 2024 einen bundesweiten Spitzenwert.

Gelsenkirchen hat nicht zu wenig, sondern vor allem an Hauptstraßen wie der „Schalker Meile“ noch viel zu viel Wohnraum für die Einwohnerzahl, wie auch OB Welge einräumt. Manche der leeren oder kaum bewohnten Häuser sind hässlich und heruntergekommen, die Stadt hat ein großes Programm gestartet, um „Schrottimmobilien“ aufzukaufen.

Das ist der Anblick, den Brown bei der Straßenbahnfahrt zur Arena zu sehen bekam. Auch hierzulande gibt es Kritiker. Selbst gebürtige Gelsenkirchener wie der Comedian Bastian Bielendorfer ziehen über ihre Heimatstadt her. „Gelsenkirchen in das absolute Schlusslicht in allem. Das ist einfach bedrückend“, betonte er vor zwei Jahren in einem Podcast. 

Der alte Bahnhof war eindeutig schöner als der neue, wie auf dieser Postkarte zu sehen ist. Foto: Imago/Funke Foto Services
Rangierbahnhof in Gelsenkirchen-Bismarck. Foto: Imago/Jochen Tack

Schalke 04 als gesellschaftlicher Kitt

Doch wenn Brown aus der Straßenbahn ausgestiegen und auf die Viertel jenseits der Hauptstraßen geschaut hätte, hätte er ein ganz anderes Gelsenkirchen gesehen, meint Oberbürgermeisterin Welge.

Die Stadt ist – wohl auch wegen der Deindustrialisierung – grün geworden wie nie zuvor. Einer von Welges Lieblingsorten ist der riesige Nordsternpark auf dem Gelände der früheren, 1993 stillgelegten Zeche Nordstern, wo 2027 die internationale Gartenausstellung stattfinden soll.

Schalke 04, der Stolz der Stadt, funktioniert auch nach zwei schmerzhaften Abstiegen aus der Fußball-Bundesliga in den vergangenen Jahren, wie Welge sagt. „Das ist der gesellschaftliche Kitt für Gelsenkirchen.“ Schalke schaffe damit einen Meistertitel besonderer Art: Mit einem Zuschauerschnitt von über 60 000 sei die Schalker Arena weltweit das bestbesuchte Zweitligastadtion.

Veltins-Arena im Stadtteil Schalke. Foto: Imago/Hans Blossey

Mitte Juli kommt Taylor Swift

Dank des modernen Stadiondachs funktioniere die Arena auch als Veranstaltungsort. AC/DC war vor kurzem da, Mitte Juli kommt Superstar Taylor Swift – nicht nach Berlin oder Köln, sondern nach Gelsenkirchen. Die Stadt liegt eben mitten in Deutschlands größtem Ballungsraum mit über fünf Millionen Einwohnern, erklärt ein Sprecher.

Das Swift-Konzert begeistert schon jetzt im Vorfeld die vielfach jugendlichen Fans. Doch auch hier hält sich die Liebe zu Gelsenkirchen in Grenzen: Eine Schülerin schlug in einer Petition vor, die Stadt während des Aufenthalts der Sängerin umzubenennen – in „Swiftkirchen“.