Exklusiv für Leserinnen und Leser unserer Zeitung sprechen beim „Ortstermin“ im Württembergischen Kunstverein Stuttgart Iris Dressler und Hans D. Christ über die Ausstellung „Three Doors“ und die Terrornacht am 19. Februar 2020 in Hanau.

Drei Türen geben der Ausstellung „Three Doors“ im Württembergischen Kunstverein Stuttgart den Namen. Es sind Türen, die geöffnet waren oder geschlossen. Genau dieser Umstand brachte mehreren Menschen den Tod. Es geht um die Tür des Notausgangs in einer Bar im hessischen Hanau, in dem vor vier Jahren ein rassistischer Amokläufer neun Menschen mit Migrationshintergrund erschoss; um die Tür des Wohnhauses, in dem der Täter schließlich sich und seine Mutter tötete. Schließlich um die Tür der Zelle in Dessau, in der 2005 der Afrikaner Oury Jalloh verbrannte.

 

Das Recherchekollektiv Forensic Architecture hat, auf Wunsch der Angehörigen der Opfer, beide Fälle wieder aufgerollt, mit großem Aufwand rekonstruiert. Im Württembergischen Kunstverein wird das überaus komplexe und verstörende Bild der Geschehnisse zum Mahnmal, Lehrstück, zum manifesten Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung – und zu einer Selbstbefragung der Kunst, ihrer Aufgaben und Ziele.

Wie entsteht eine solche Ausstellung? Auf diese und andere Fragen antworteten in der Veranstaltungsreihe „Ortstermin“ unserer Zeitung im Dialog mit Nikolai B. Forstbauer, Autor unserer Zeitung, die Kunstvereinsverantwortlichen Iris Dressler und Hans D. Christ. Fast 100 Leserinnen und Leser waren am Dienstagabend dabei.

Forschung wird Bild

Wie lässt sich eine Ausstellung, die sich um die Aufarbeitung von Verbrechen und behördlichem Versagen vor einem rechtsradikalen Hintergrund bemüht, im Kontext der Kunst verstehen? Hans D. Christ sieht hier ein Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft in der Tradition von Joseph Beuys’ Installation der „7000 Eichen“ für die Weltkunstausstellung Documenta 7, 1982 in Kassel. Forensic Architecture rekonstruieren Vorgänge interdisziplinär und äußerst präzise als Gegenbilder offizieller Versionen. Details kommt dabei große Bedeutung zu. Ein Beispiel ist, wie bei der Führung für die „Ortstermin“-Gäste deutlich wird, die große Zeitleiste zu den Ereignissen in Hanau. Hier wird der Weg, den der Attentäter in wenigen Minuten zurücklegte, aufgefächert, wird die unmittelbare Abfolge und Gleichzeitigkeit von Ereignissen sichtbar gemacht –in Zeitlupe gewissermaßen, zugleich abstrahiert und in eine grafische Darstellung überführt. Auch die Visualisierung der Flugbewegungen eines Polizeihubschraubers, der sich zur Zeit der Anschläge ziellos über Hanau bewegte, leistet Ähnliches, konkretisiert das Versagen des Polizeiapparates zu einem aussagestarken Bild.

Jan Böhmermanns bitteres Fazit

Mindestens zwei Menschen wurden in Hanau getötet, da die Tür des Notausganges der Arena-Bar, des zweiten Tatorts, verschlossen waren – auf Anordnung der Polizei. Die Bar galt als Umschlagplatz für Marihuana; Razzien sollten so erleichtert werden. Ein Notruf war über einen längeren Zeitraum nicht besetzt. Beteiligte wurden nicht zur Verantwortung gezogen. Jan Böhmermann thematisierte die Morde von Hanau jüngst in seiner Late-Night-Show „ZDF Magazin Royale“, präsentierte die auch im Kunstverein zu hörenden Aufzeichnungen aus dem Cockpit des Polizeihubschraubers. Böhmermanns Fazit: „Die Anschläge von Hanau hätten verhindert werden können.“

Erinnerung an Oury Jalloh

Im Fall von Oury Jalloh indes spricht lange schon vieles dafür, dass der Afrikaner Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt wurde. Jalloh wurde im Januar 2005 in Dessau aufgegriffen, inhaftiert und verbrannte anschließend in seiner Zelle. Der Mann, der auf einer feuersicheren Matratze lag und an Händen und Beinen gefesselt war, soll sich, nach polizeilicher Darstellung, selbst in Brand gesteckt haben. Auf der Dessauer Wache kam es zuvor bereits zu ungeklärten Vorfällen mit Todesfolge.

„Three Doors“ stellt die Geschehnisse in Hanau und Dessau dar – anhand von Daten, Aufzeichnungen, Rekonstruktionen, die ein Gefühl der Überwältigung, Beklemmung erzeugen. Im Eingangsbereich ist ein Strauß Blumen in einer Vase zu sehen – in Erinnerung an die Opfer der Anschläge von Hanau, an Oury Jalloh – „Und alle Opfer rassistischer Gewalt.“ Der Strauß wurde aufgestellt in Rücksprache mit den Angehörigen – „Sie allein“, so Hans D. Christ, „sollen entscheiden, ob sie eine solche Geste angemessen finden, nicht der Kurator.“ Angehörige der Opfer kamen wiederholt nach Stuttgart und führten Besucher durch die Ausstellung, werden dies auch wieder tun. „Three Doors“ lässt sich so lesen als komplexe Erzählung, die mit wissenschaftlichen und medialen Möglichkeiten einen bestimmten Aspekt des Lebens in Deutschland behandelt. 180 Morde mit rechtsradikalem Hintergrund, sagt Hans D. Christ, fanden seit der Wiedervereinigung in Deutschland statt. Türen werden zum Sinnbild für Sichtbarkeit und Verschleierung, für Selektion und strukturelle Gewalt.

Tägliche Realitäten

„Hier im Württembergischen Kunstverein“, sagt Iris Dressler beim „Ortstermin“, „haben wir einen direkten Blick auf den Schlossgarten. Wir können jeden Tag beobachten, was Racial Profiling auch in Stuttgart bedeutet. Auf eine traurige Weise ist das fast wie ein Theaterstück.“

Three Doors: Württembergischer Kunstverein, bis 1. September. Geöffnet Di bis So 11 bis 18 Uhr, Mi 11 bis 20 Uhr.

Die Forschergruppe und die Ausstellung

Forensic Architecture
wurden 2011 von dem Architekten Eyal Weizmann gegründet und bemühen sich seither, anhand sorgfältiger Rekonstruktion die Spuren staatlicher Gewalt aufzuzeigen. Die Recherchegruppe besteht aus Architekten, Grafikern, Journalisten, Künstlern. Sie untersuchte bislang mehr als 70 Fälle in Europa, dem Nahen Osten, Russland und der Ukraine, mit der Absicht, Vorfälle ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, politisch aufzuarbeiten und künftig zu verhindern.

Three Doors
wurde zuerst 2022 in Frankfurt am Main präsentiert, ist nun an mehreren Standorten in Deutschland zu sehen, im Württembergischen Kunstverein Stuttgart noch bis zum 1. September 2024. Die Stadt Stuttgart hat das Projekt mit Gemeinderatsbeschluss umfassend finanziert. Ein umfangreiches Begleitprogramm flankiert die Schau. Teil der Ausstellung selbst ist auch „Die Lücke von Hanau“, eine sechsteilige Audiodokumentation des SWR.