Im Juni 1938 starb die Widerstandskämpferin Lilo Herrmann, ermordet von der NS-Justiz in Berlin-Plötzensee. In Stuttgart erinnern ein Stolperstein und weitere Orte an die junge Frau, die nach dem Krieg auch in der DDR verehrt wurde. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen“.

Im Morgengrauen des 7. Dezember 1935, einem Samstag, wird die Widerstandskämpferin Lilo Herrmann von der Gestapo in der Wohnung ihrer Eltern in der Hölderlinstraße 22 unter dem Killesberg in Stuttgart verhaftet. An dieser Stelle erinnert heute ein Stolperstein an die damals 26-jährige junge Mutter.

 

Das Material, das bei der Hausdurchsuchung gefunden wird, hat es in sich: die Kopie des detaillierten Plans einer unterirdischen geheimen Munitionsanstalt in Scheuen bei Celle und Schriften der von den Nationalsozialisten verbotenen KPD. Auch Spionage-Informationen für Publikationen wie „Hitlers Luftflotte startbereit – Enthüllungen über den tatsächlichen Stand der Rüstung“, veröffentlicht 1935 in Paris von den Kommunisten Albert Schreiner und Willi Münzenberg, die damit Lügenpropaganda entlarven wollten, wonach es den Nazis angeblich um die Erhaltung des Weltfriedens ging.

Blutrotes Hinrichtungsplakat aus dem Juni 1938. Foto: StZN/Stolpersteine Stuttgart

Vielleicht dachte Lilo Herrmann weniger an die damit verbundene Gefahr für sich und ihren 1934 geborenen kleinen Sohn Walter Herrmann – der Vater blieb zunächst unbekannt – als an die Chance, einer verblendeten deutschen Öffentlichkeit die frühen Kriegspläne des NS-Regimes klar zu machen und damit Schlimmeres zu verhindern? „Der Krieg ist 1939 nicht urplötzlich ausgebrochen. Es gab einen Vierjahresplan für die Rüstung“, sagt der Stolperstein-Aktivist Jörg Kurz aus Stuttgart-Nord, der zu Lilo Herrmann viel Material zusammengetragen hat und auf der Stuttgarter Stolperstein-Seite eine kurze Biografie über die Chemie- und Biologie-Studentin verfasst hat.

Stolperstein in der Hölderlinstraße 22. Foto: StZN/Stolpersteine Stuttgart

1909 als Tochter eines angesehenen Ingenieurs in Berlin geboren, lebte Lilo Herrmann aufgrund beruflicher Umzüge des Vaters in ihrer Jugend unter anderem in Gießen, Frankfurt, und Berlin. Sie studierte an der damaligen TH Stuttgart und an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute nach Humboldt benannt), bevor sie als Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands Deutschland (KJVD) exmatrikuliert wurde und im Büro ihres Vaters als Stenotypistin aushalf.

Nach dem Abitur wollte Lilo Herrmann wie die von ihr bewunderte Käthe Kollwitz eigentlich Malerin werden, doch legte der Vater Widerspruch ein: Die Tochter sollte ein Chemie-Studium aufnehmen, musste zur Vorbereitung ein halbes Jahr lang als Laborantin bei der Firma Dr. Arthur Eichengrün in Berlin arbeiten. An der TH Stuttgart wechselte sie nach wenigen Semestern mit Zustimmung des strengen Vaters dann auf das Studienfach Biologie.

Logo des Kommunistischen Jugendverbands Deutschlands, in dem Lilo Herrmann aktiv war. Foto: StZN/Staatsarchiv

Im Ingenieurbüro des Vaters kopierte Lilo Herrmann den erwähnten Plan, der der Gestapo in die Hand fallen und die Jungkommunistin nach einem in Stuttgart abgehaltenen Schauprozess vor dem Volksgerichtshof am 20. Juni 1938 im Zuchthaus aufs Schafott bringen sollte. Nicht helfen konnten ihr dabei europaweit zirkulierende antifaschistische Broschüren unter dem Titel „Eine deutsche Mutter in der Todeszelle“. Eher im Gegenteil: Das dem Söhnchen Walter zu Liebe geschriebene und an den Anwalt adressierte Gnadengesuch lehnten Hitler und sein Klüngel ab.

Lilo-Herrmann-Gedenkstein bei der Uni im Stuttgarter Stadtgarten. Foto: StZN/Lichtgut/Max Kovalenko

Verraten von ihrem Genossen und späteren Gestapo-Spitzel Eugen Wicker aus Ludwigsburg (1903-1971), gilt Lilo Herrmann heute als erste Frau, die von der NS-Justiz als Widerstandskämpferin hingerichtet wurde.

Das war nicht immer unumstritten. Aus der Zeit gefallen und spitzfindig wirkt mittlerweile der „Stuttgarter Historikerstreit“, um einen Lilo-Herrmann-Gedenkstein auf dem Innenstadt-Campus der Uni Stuttgart. Geschichtsprofessor und SPD-Mitglied Eberhard Jäckel (2017 verstorben) argumentierte kurz vor dem Ende des Kalten Kriegs gegen einen Gedenkstein: Lilo Herrmann habe keinen Bezug zur Uni Stuttgart und sei nicht als sehr vorbildhaft zu empfinden. Außerdem hätten die Nazis vor Herrmann schon andere Frauen wegen Spionage für Polen oder Tschechien ermordet.

Der Stein fand daher keinen Platz direkt auf dem Uni-Campus, sondern wenige Meter weiter auf städtischem Gelände – aufgestellt von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und dem Stadtjugendring mit Fürsprache von Oberbürgermeister Manfred Rommel. Der Schwarzwälder Bote klagte über eine „Nacht-und-Nebel-Aktion, die nur durch Stasi-Beteiligung gelingen konnte“. 2016 kümmerte sich das Rektorat dann jedoch um die Beseitigung von Schmierereien am Gedenkstein und nahm das NS-Opfer Herrmann somit zumindest indirekt ins offizielle Gedenken auf.

Lilo-Herrmann-Weg im Fasanenhof. Foto: StZN/Stolpersteine Stuttgart

Kontrovers war 1988 eine Lilo-Herrmann-Darbietung des Deutschen Theaters aus Ost-Berlin in der Liederhalle gewesen, denn die Stuttgarterin galt in der DDR als eine Art Widerstands-Ikone, der man im Musikunterricht mit einem Melodram von Friedrich Wolf und Paul Dessau zu huldigen hatte. Bis heute sind in Ostdeutschland etliche Straßen nach Herrmann benannt. Auch für Pionierheime und Schulen stand sie Pate. In Stuttgart schaffte die Kämpferin es 1972 nur in eine kleine Sackgasse im Fasanenhof, den Lilo-Herrmann-Weg.

Seit 2010 gibt es in der Böblinger Straße 105 im Süden das „Linke Zentrum Lilo Herrmann“, nachdem Aktivisten dort ein Haus erwerben konnten, in dem heute Veranstaltungen stattfinden. 2008 wurde in der Hölderlinstraße 22 der Stolperstein verlegt, und es gab eine große Hommage mit Vorträgen vor mehreren Hundert Gästen in der Gedächtniskirche.

Hölderlinstraße 22 in Stuttgart. Foto: StZN/Stolpersteine Stuttgart

Walter Herrmann mit seiner im Alter von 29 Jahren verstorbenen Tochter bei der Gedenkveranstaltung 2008. Foto: StZN/Stolpersteine Stuttgart

Wenigstens konnte der 1934 geborene Sohn und Vollwaise Walter Herrmann in der Nachkriegszeit behütet im bürgerlichen Haus der Großeltern aufwachsen. Er wurde über 80 Jahre alt, starb 2013 und hinterließ drei Kinder. Sein Vater war der in Berlin in Gestapo-Haft zu Tode gefolterte Stuttgarter KPD-Funktionär Fritz Rau (1904-1933).

Walter Herrmann als Kind. Foto: StZN/Stolpersteine Stuttgart

Mit Liselotte Herrmann starben auch die württembergischen Kommunisten Josef Steidle, Stefan Lovász und Artur Göritz am 20. Juni 1938 im Zuchthaus Plötzensee. Die Körper wurden der Charité zur Forschung übergeben. An den früheren Wohnorten schlug man im Sommer rote Plakate an den modernen Pranger, um Nachahmer abzuschrecken. Ihre Warnrufe vor dem ganz großen Krieg sollten sich wenig später leider bewahrheiten.