Was kommt dabei heraus, wenn Archäologie auf modernste Gaming-Technologie trifft? Eine virtuelle 3D-Reise über die älteste Mega-City der Geschichte. Forscher aus Berlin haben erstmals den digitalen Zwilling der mesopotamischen Metropole Uruk erstellt.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Uruk oder Ur war einst die größte Stadt auf dem Erdball. Um 3500 v. Chr. lebten mehr als 50 000 Menschen in den Ziegelmauern der frühantiken Mega-City. Die Metropole am Ufer des Euphrat bildete das Zentrum des legendären Sumerer-Reiches und umfasste neben Wohngebäuden, Werkstätten und Palästen mehrere große Tempel.

 

„Die archäologischen Überreste Uruks bedecken heute eine Fläche von mehr als fünf Quadratkilometern“, erklärt Max Haibt vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) in Berlin. „Sie bergen die materiellen Zeugnisse einer der ersten Städte der Welt in sich.“

Die sumerische Zikkurat von Uruk im Süden des Irak wurde teilweise rekonstruiert. Foto: Imago/Imagebroker

Digitaler Zwilling mit 3D-Rundflug

Um diese einzigartigen, zum Unesco-Welterbe gehörenden archäologischen Relikte möglichst intakt zu bewahren und zerstörungsfrei zu erforschen, haben Haibt und sein Team erstmals einen digitalen Zwilling Uruks erstellt, der mittels einer virtuellen Animation einen Flug über die Region ermöglicht.

„Ein solcher digitaler Zwilling unterscheidet sich von einem bloß geometrischen Digitalmodell, weil er neben dem 3D-Modell auch Echtzeitdaten von Sensoren umfasst“, erläutert der Berliner Altertumsforscher.

Die Studie der Berliner Wissenschaftler ist jetzt im Fachmagazin „International Journal of Digital Earth“ erschienen.

Uruk – Mega-Metropole der frühen Antike

Das berühmteste Bauwerk der gewaltigen Stadt am Euphrat war die Zikkurat des Mondgottes Nanna, ein gestufter Tempelturm mit einer Basislänge von 62,5 mal 43 Metern bei einer Höhe von 25 Metern.

Die Überreste dieses Stufentempels liegen im Süden des heutigen Irak, 15 Kilometer westlich der Großstadt Nasiriya. Er wurde von den Sumerern unter der Herrschaft des Königs Ur-Nammu und seines Sohnes Šulgi vor über 4000 Jahren erbaut.

Rekonstruktion der Zikkurat von Ur oder Uruk. Foto: Imago/Granger/Historical Picture Archive
An die Stelle der originalen Zikkurats wurde eine Rekonstruktion aus Ziegeln und Beton errichtet. Foto: Imago/Granger/Historical Picture Archive

Einer der bedeutendsten Fundorte im Zweistromland

Uruk, das heutige Tall al Warkā’, liegt etwa 20 Kilometer östlich des Euphrats. Im Altertum lag die mesopotamische Stadt direkt am Fluss. Sie ist einer der bedeutendsten Fundorte im Zweistromland und namensgebend für die Uruk-Zeit (etwa 3500 bis 2800 v. Chr.). Bereits im ausgehenden 4. Jahrtausend v. Chr. war Uruk eines der politisch führenden Zentren der sumerischen Frühzeit.

In Uruk wurde auch die erste Schrift – die sogenannte Proto-Keilschrift – entwickelt. Mit diesem Schreibsystem wurden die archaischen Texte aus der späten Uruk-Zeit bis hin zur beginnenden frühdynastischen Zeit geschrieben – also die Schrift der sumerischen Texte um ca. 3200 v. Chr. bis 2700 v. Chr.

Damit gilt die Proto-Keilschrift als ältestes Schriftsystem der Welt. Es sind bisher 5820 archaische Texte bekannt, die meist auf Ton-, aber auch auf Stein- und Gipstafeln zu finden sind.

In Uruk wurde die erste Schrift entwickelt. Foto: Imago/UIG
Diese sogenannte Proto-Keilschrift gilt als ältestes Schriftsystem der Welt. Foto: Imago/AGB Photo

Virtueller Flug über Ruinen

Uruks 3D-Zwilling ermöglicht die virtuelle, hochaufgelöste Erkundung und Erforschung der antiken Ruinen und ihrer Umgebung. Für Spatenforscher erleichtert das sogenannte VR-Modell zudem die Planung von Ausgrabungen und Probennahmen. So können auch neue Daten wie Bohrkerne, geophysikalische Messungen und archäologische Profile direkt in das weitläufige digitale Landschaftsmodell integriert werden.

  • Zur Info: VR steht für virtuelle Realität. Gemeint ist damit ein digitales, am Computer geschaffenes Abbild der Realität.
Uruk ist einer der bedeutendsten Fundorte im Zweistromland und namensgebend für die Uruk-Hochkultur. Foto: Imago/Imagebroker
Blick auf den rekonstruierten Tempelturm von Uruk. Foto: Imago/Imagebroker

32 000 Luftbilder mit Drohne erstellt

Damit ein solcher digitaler Zwilling entstehen konnte, waren enorme technische Herausforderungen zu meistern. Die erste ist die hochaufgelöste, sogenannte georeferenzierte Kartierung des betreffenden Gebiets.

  • Zur Info: Georeferenzieren bedeutet, bestimmte Koordinaten in digitalen Kartendarstellungen und anderen Geodaten zuweisen.

Dafür nutzten die Archäologen um Max Haidt eine ferngesteuerte Langstreckendrohne, die über eine Reichweite von mehr als 100 Kilometern verfügt und ein Kilogramm Nutzlast tragen kann. Sechs Tage lang überflog sie Uruk in einem engen Suchraster und erstellte dabei gut 32 000 Luftbilder von Uruk und Umgebung.

9,3 Milliarden Netzpolygone und 1024 Texturlagen

Jede Aufnahme wurde mit einem speziellen Geotag versehen und mit 3D-Photogrammetrie-Software zu einem einzigen georeferenzierten Modell zusammengefügt. Basis dieses 3D-Modells bildeten 9,3 Milliarden Netzpolygone und 1024 Texturlagen.

  • Zur Info: All diese hier verwendeten Begriffe stammen aus der Geografie, Kartografie und Landvermessung. Photogrammetrie meint das Messen mit Bildern. Dabei kann es sich um Bilder handeln, die mit einer Vielzahl von Geräten aufgenommen wurden, etwa Drohnen, Flugzeuge oder Handkameras.
  • Unter Geotagging – auch Georefenzieren, Geocoding, Geo-Imaging genannt – versteht man bei fotografischen Aufnahmen die Zuordnung von geografischen Koordinaten. Als Punkte in einer elektronischen Karte lassen sich die so georeferenzierten Bilder anschließend leichter suchen und auswählen.
  • Die Georeferenzierung ermöglicht es folglich, das zum Beispiel Straßen und Straßennamen oder vollständige Kartendarstellungen mit einem Luftbild passgenau kombiniert werden können.
Berühmtes Artefakt: Die Standarte von Ur ist ein Holzkasten aus einem Grab auf dem Königsfriedhof von Ur. Datiert wird das Grab in die frühdynastische Zeit (2850 bis 2350 v. Chr.). Foto: Imago/Imagebroker
Historisierende Darstellung des Baus der Zikkurat von Uruk aus dem 19. Jahrhundert. Foto: Imago/Jt Vintage
Die Ruinen von Ur im Irak. Foto: Imago//Jonathan T. Wright/Avalon red.

Archäologie trifft auf Gaming-Technologie

Das Problem war dabei: „Selbst fortgeschrittene Grafiksoftware kann typischerweise maximal 15 Millionen Polygone laden und rendern“, erläutert Haibt.

  • Zur Info: Polygone heißen auch Vielecke und sind in der elementaren Geometrie eine ebene (sogenannte planare) geometrische Figur. Rendern – auch Bildsynthese genannt – bezeichnet in der Computergrafik die Erzeugung eines Bildes aus Rohdaten.
  • Die Lösung fand das Forscher-Team in modernster Gaming-Technologie – also Software zum Spielen von Computerspielen. Die in eine Gaming-Engine (eine Software, die den Spielverlauf steuert und für die visuelle Darstellung des Spielablaufes verantwortlich ist) integrierte Nanite-Technologie (Nanite ist eine Computertechnik, um hochkomplexe 3D-Grafiken zu erzeugen) ermöglicht es, den umfangreichen Datensatz in Echtzeit zu streamen und zu visualisieren.

Ruinen von Uruk in 8k

Das Ergebnis ist ein realistisches virtuelles Abbild, das die Ruinen von Uruk und seine Umgebung auf einer Fläche von 40 Quadratkilometern und mit 8k-Auflösung zeigt.

  • Zur Info: Die 8K-Bildauflösung – auch 8K und 4320p genannt – bezeichnet eine horizontale Bildauflösung in der Größenordnung von 8000 Spalten. Es ist wie 2K und 4K ein hochauflösendes digitales Videoformat, das ungefähr viermal so viele Bildpunkte (Pixel) hat wie Full HD (Video-Hochauflösung von 1920 mal 1080 Pixeln).

„Die räumliche Auflösung des ersten Prototyps liegt mit 27 Zentimetern und einer Texturauflösung von rund drei Zentimetern zwar noch unter den Zielvorgaben. Dennoch ist die Qualität schon ausreichend hoch, um das Modell als allgemeinen Kontext für die Integration weiterer räumlicher Daten zu verwenden“, betont Haibt.

Ein Jahrhundert archäologischer Forschung virtualisiert

Historisches Foto der Ruinen der Zikkurat von Ur (um 1930). Foto: Imago/Granger/Historical Picture Archive

Der virtuelle Flug über Uruk macht erstmals sichtbar, was und wo in einem Jahrhundert der archäologischen Forschungen in der mesopotamischen Stadt in der Realität ausgegraben, untersucht und freigelegt wurde. Die Archäologen sehen darin einen ersten Schritt, zu einem noch höher aufgelösten digitalen Zwilling Uruks.

Schon jetzt kann die 3D-Animation von Forschern für die Planung und Auswertung ihrer realen Projekte verwendet werden. Im Sommer 2024 soll es zudem „geführte Touren“ geben. Im Anschluss wird Uruk-3D dann auch öffentlich zur selbstständigen Erkundung für jeden Interessierten im Internet zugänglich sein.