Eine lokal inspirierte Ermunterung zur Teilnahme an der Kommunal- und Europawahl an diesem Sonntag von Redakteur Jan Sellner.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Sollte wer an diesem Sonntag nichts unternehmen wollen, so rein gar nicht, auch nicht wählen gehen, dann empfehlen wir einen besonderen Stadtspaziergang: eine Stuttgart-Tour der Demokratie. Sie startet im Herzen der City am Rathaus, auf dessen Fassade die Stadt anlässlich 75 Jahre Grundgesetz jüngst die Nationalfarben projizieren ließ. Eigentlich müsste das Rathaus ja Demokratiehaus heißen, denn hier hat nicht nur der gewählte OB seinen Sitz, hier tagt auch der Gemeinderat, die 60 demokratisch legitimierten Vertreterinnen und Vertreter der Bürgerschaft, von denen jetzt viele erneut um Vertrauen werben.

 

Um Demokratie muss man sich kümmern

Vom Rathaus führt die Tour zum Landtag, vorbei am Public Viewing am Schlossplatz. Während der Fußball-EM werden dort Fans aus vielen europäischen Ländern gemeinsam Fußball schauen und feiern – eine kleine Gedankenstütze, was in Europa möglich geworden ist: Freizügigkeit, Reisefreiheit, Begegnung ohne Schranken – dank der EU.

Im Schlossgarten angekommen, blickt man auf das 1961 eingeweihte, zeitlos schöne, vor allem zeitlos wichtige Landtagsgebäude. Ein Ort und Hort der Demokratie, die heute in besorgniserregender Weise gefährdet erscheint, was es umso wichtiger macht, sich um sie zu kümmern. Deshalb lohnt auch ein Blick auf ihre Wurzeln. Der Spaziergang führt zum Marquardt-Gebäude am Schlossplatz, das vor 175 Jahren der letzte Rückzugsort der verbliebenen Vertreter der Frankfurter Nationalversammlung war – worauf leider nichts hinweist, da es bis heute nicht gelungen ist, dieses wichtige Kapitel der Demokratiewerdung Deutschlands an Ort und Stelle sichtbar zu machen.

Auf der Kronprinzstraße, dem einstigen Sitz des württembergischen Landtags und kurzzeitigem Tagungsort der Nationalversammlung, geht es weiter zur Leuschnerstraße im Hospitalviertel. Hier endete am 18. Juni 1849 der erste deutsche Demokratieversuch. Wichtiger als das Scheitern ist die Tatsache, dass er überhaupt stattgefunden hat, was im öffentlichen Bewusstsein kaum verankert ist. Wer noch Puste hat, begibt sich in die Wiederholdstraße, wo seit Kurzem eine Stele an den überzeugten Demokraten und Nazijäger Fritz Bauer erinnert – vorbei an Stolpersteinen. Zeugnissen, die zeigen, wo es enden kann, wenn Feinde der Demokratie die Macht übernehmen. „In der Demokratie eingeschlafen, in der Diktatur aufgewacht“, lautet ein einprägsamer Merksatz.

Viele Orte führe die Bedeutung der Demokratie vor Augen

Es gibt noch viel mehr Demokratie-Orte in der Stadt, die es wert sind, dass man sie aufsucht oder an sie erinnert: das Hotel Silber, die einstige Gestapozentrale, die heute ein wichtiger Lern- und Erinnerungsort ist oder die Ausstellung der Anstifter im Haus der Katholischen Kirche zum Thema Menschenrechte und nebenan, im Kunstgebäude, das Projekt Three Doors zum Thema Rassismus, und natürlich die Villa Reitzenstein und die Villa Bosch und der Stauffenbergplatz – alle diese Orte sind Wegweiser, worin der Spaziergang am Sonntag münden sollte: in den Besuch des Wahllokals!